de / en

Phobos – oder im Teleskop erscheint die Trainingsjacke

In den dunklen Weiten, die der schwarze Grund der Bilder öffnet, stehen die Monde und Planeten: Zerfurcht und zerkratert, fein konturiert und erhaben, erstrahlen sie im leeren Raum: Objekte romantischer Anschauung und der Sehnsucht nach Ewigkeit. Diese Relikte aus der Entstehungsphase unseres Sonnensystems schält der Berliner Maler Sven Reile in seinen Ölbildern aus der Leinwand. Er variiert die ursprünglich hochästhetischen und statischen Oberflächen zu einem grotesken Vexierspiel menschlicher Wahrnehmung.

Sein optisches Leitmotiv  greift den griechischen Mythos von Phobos, einem der beiden Mars-Monde, auf, der mit seinem Brudermond Deimos den Planeten umkreist: Phobos (gr. Angst) als Begleiter des Mars, Hoffnungsträger menschlicher All-Phantasie und Gott des Krieges, wird in Reiles surrealen Portraits zur mythischen Projektionsfläche für Wünsche, Träume und Möglichkeiten: Ob bei der „Jagd“ die kalte Kraterwand zum angriffslustigen Krieger-Gesicht mutiert, die „Evolution“ einen elektrisierenden, mehräugigen Blick auf die träge Masse wirft oder ein durchlöcherter Beziehungspartner naiv und einäugig „Ach, wir kriegen das schon hin Schatz” fleht, immer wird das Universum auf etwas ganz Alltägliches heruntergebrochen und man selbst unweigerlich in dieses offene Spiel der beiden Vorstellungswelten hineingezogen. Reile treibt diese Ambivalenz auf die Spitze, wenn er wie im „Starken Raucher“ die plötzlich verbraucht scheinende Oberfläche des Mondes mit dem Zerfall  durch menschliches Laster assoziiert oder in „Entropie“ einen pubertierenden Mond in wuchernder Begierde nach Verwandlung zeigt.

Das Prinzip der Verfremdung wird derart auf den Kopf gestellt, dass- anstatt wirklich Menschliches  zu verzerren, oder zu stauchen und so Erkenntnis-Distanz zu schaffen, Typen, Klischees und Begriffe als Verformung des eigentlich Unveränderlichen in Szene gesetzt werden: Mal wuchern Organe oder sprechblasenähnliche Flora aus den Kratern, weiten sich Öffnungen zu Mündern oder werden von Glupschaugen okkupiert, mal ergänzen typische Accessoires wie Kragen oder Jacken die mäandernden Gesteinsformationen, von farbgewaltigen Materieströmen umnebelt, freigesetzte Energie im Urzustand, unkontrolliert, perplex und fremd. Reile produziert mit diesem Bilderspektrum jedoch ein ebenso komisches wie unheimliches Paralleluniversum, das jenseits jeder allegorischen Bedeutung Traum, Angst, Lust und Schrecken in gleichem Maße provoziert, indem es die humanen Verzerrungen von Vornherein unwahrscheinlich erscheinen lässt: Das Selbstbild des Menschen als phantastische Infektion, als Virus der unschuldigen Natur kratzt hier förmlich an der Eitelkeit der Spezies, zu der nicht zuletzt der Künstler als Gestalter selbst zählt. Subtile Selbstentlarvung oder absurdes Joggen auf einer Art Möbius-Schleife? Die Antwort: Das Reile’sche Universum expandiert ständig und verschiebt die sichere Grenze des Sicht- und Wahrnehmbaren immer weiter ins verstörte Innere des Betrachters, der sich letztlich selbst beobachtet sieht: Der „U8“-Fahrgast, unverkennbar in zweistreifiger Trainingsjacke, wird so zum Klischee jenseits jeder zeitgemäßen Bewertung, gesellschaftsferne Ironie auf Kosten wehrloser Trabanten...

Das visuelle Erlebnis des sich dem leblosen Objekt annähernden Blicks, der in den schwarzen Bildern angelegt ist, mündet in Kombination mit den zum Teil fast kitschig komponierten Farberuptionen, quasi evolutionäre Effekte, in eine intensiv subjektive Erfahrung. Vergleichbar mit den Ansätzen von Francis Bacon oder Max Ernst wird hier dem Bewusstsein die Möglichkeit der sprachlichen Verarbeitung von Wirklichkeit  abgesprochen und nicht nur die ästhetische Ebene erinnert an Kubricks 2001, es ist der strategische Kern von Reiles Bildern, einen (Selbst-) Wahrnehmungsprozess anzustoßen, der den Weg des emotional-philosophischen Inhalts wählt, um direkt zum Unterbewusstsein vorzudringen. Insofern verhalten sich seine Bilder klassisch surrealistisch: Kunst als “vielleicht die sichtbarste Wiederkehr des unterdrückten Bewusstseins" (Freud). Sven Reile entfaltet durch die  Vermenschlichung eigentlich lebloser Natur eine betörend widersprüchliche Ästhetik. Den grotesken Szenarien flößt sie eine bedrohliche Ernsthaftigkeit ein, die sich wohl am besten durch ein genussvolles kosmisches Lachen kompensieren lässt.

Andreas Engler

Phobos – or in the telescope appears the training jacket

In the dark expanses of the black ground of the pictures are the moons and planets: Rutted and rugged, finely contoured and elevated, they shine in the empty space: objects of romantic conception and aspiration for eternity. In his oil paintings, Berlin artist Sven Reile peels off the canvas these relics of our Solar System’s development phase. He produces variations of their originally highly aesthetic and static surfaces into a grotesque picture puzzle of human perception.

His visual leitmotif picks up the Greek myth of Phobos, one of the two Martian moons which orbits the planet together with its sister moon Deimos. Phobos (Greek for anxiety) being a companion of Mars (the source of hope for all-human fantasy and God of War), becomes in Reile’s surreal portraits, a mythical projection of wishes, dreams and possibilities. Whether in the "Jagd" (Hunt), where the cold crater wall mutates into an aggressive warrior-face; or in the "Evolution", throwing an electrifying, multi-eyed look at the inert mass or a naive and one-eyed perforated companion who pleads: "Ach, wir kriegen das schon hin Schatz" (Ah, we'll manage darling). The universe is always broken down into something quotidian and one is inevitably drawn into an open view of two imagined worlds. Reile drives this ambivalence to new heights when he suddenly associates the consumed shining surface of the moon, as in "Starker Raucher" (Strong Smoker), with decay through human vice, or in "Entropie" (Entropy), which shows an adolescent Moon in rampant desire for transformation.

The principle of alienation becomes so inverted that instead of actually deforming or compressing the human (and therefore creating distance perception); it sets characters,  stereotypes and terms in the scene as the deformation of the truly immutable.

At times, organs or balloons grow exuberantly like flora out of wide craters, opening like mouths to be occupied by popping-out eyes. And occasionally the meandering rock formations are supplemented by typical clothing accessories such as shirt collars or jackets, clouded by a stream of matter, powerful in colour as released energy in its primitive state, uncontrolled, perplexed and odd. Reile produces a parallel universe just as dark and scary, which provokes beyond any allegorical meaning, dream, fear, desire and horror in equal measure by making human distortion appear unlikely from the outset. The self-image of humans as a fantastical infection, as a virus of the innocent nature formally scratches here the vanity of the species, amongst it not least the artist, one of the creators himself.

Subtle self-exposure or jogging on a sort of absurd Möbius band? The answer: Reile’s universe is expanding, constantly shifting the safe limit of vision and perception, disturbingly falling further and further inside of the viewer, who eventually sees himself observed. The “U8” – passenger, unmistakably wearing a two-stripe training jacket, is becoming a stereotype beyond any contemporary assessment, socio-distant irony at the expense of defenseless satellites …

The visual experience of the approaching view of the inanimate object, laid out in the black paintings, in combination with the sometimes almost kitschy colour eruptions, (quasi evolutionary effects) leads to an intensely subjective experience.

Similar to the approaches of Francis Bacon and Max Ernst, here is the consciousness of the possibility of linguistic processing by reality denied. Not merely the aesthetic level of the paintings calls to mind Kubrick's 2001: A Space Odyssey, but the ability of the strategic core of Reile’s images to launch a (self-) perception process, choosing the path of the emotional and philosophical content to get directly through to the subconscious.

In this respect, his paintings classically behave surreally. Art as "perhaps the most visible return of the repressed consciousness" (Freud). Sven Reile is unfolding beguilingly contradictory aesthetic through the humanisation of inanimate nature. It instills into the grotesque scenarios a threatening seriousness, which can be best compensated for by an enjoyable cosmic laugh.

Andreas Engler

PHOBOS

I.

Sternenstaub sind wir, entstanden aus einer Explosion vor Lichtjahren. Planeten sind wir, kreisen in unseren Bahnen; Monde, Trabanten. Unser interstellarer Flug setzt an, vom Schongang in die Schnellstufe, im Größten, im All, der luftleeren Unendlichkeit, gibt es die Setzung des Endlichen, kompakte Materie, zusammengesetzt um zu zerfallen. Unser Vater, der Vater aller Dinge, unsere Mutter: Sinnlichkeit, Lust, Begierde. Kinder von beiden, begleiten wir den Vater. Wir, das sind: Deimos und Phobos. Unser Vater ist der Krieg, mein Bruder ist der Schrecken und ich bin die Furcht. Die Angst zeigt den Weg, zieht die Bahn.

II.

Allzumenschliches projiziert vom kleinen blauen Planeten am Rande einer der vielen Galaxien im Weltenraum, nicht zuletzt um Ordnung zu schaffen im Chaos. Sven Reiles Bilder oszillieren in mikro- und makrokosmischen Räumen zwischen Menschlichem und Planetaren. Augäpfel und Schädel verschmelzen mit dem kraterübersäten Himmelskörper des kleinen Marsmondes namens Phobos, der zuerst mythologische Gestalt, geboren aus der psychologischen Sensibilität griechisch-antiker Selbstreflektion zum astronomischen Gestirn gewachsen ist. Erkennbar nur mit dem optischen Sensorium menschlicher Technologie. Sven Reile bedient sich der Bilder aus dem nicht greifbaren Raum des Weltalls, der Peripherie menschlicher Wahrnehmung und setzt sie durch die Malerei ins Verhältnis zum Menschen. Durch diesen Kunstgriff gelingt ihm das, was schon der griechischen Mythologie innewohnt, Seelenzustände zu verdeutlichen mit Hilfe einer bildlichen Sprache, die nicht das Phänomen erklärt oder terminiert, sondern verdeutlicht. Waren es in der antiken Mythologie Götter, so sind es in Reiles Bilderwelten die astronomischen Objekte, die uns die Facetten menschlicher Geisteszustände vor Augen führen. Durch das Motiv des Phobos bedient sich der Künstler auch der mythologischen Konnotation des Marsmondes. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Themen seiner Bilderserie dominiert werden von der dunklen Seite unserer Seele, von Angst und Schrecken. Schwerelos schwebende Augen werfen den Blick des Betrachters zurück, geben dem Bild ein Eigenleben, das sich zurückzieht in die unbekannten Gefilde des Weltalls um sich wieder zu verdichten in der Andeutung einer menschlichen Form, sei es ein Korpus oder die Porträitansicht eines Kopfes. In diesem Wechselspiel zwischen Entziehen und Erscheinen spielt der Künstler mit der Assoziationskraft des Betrachters, der ein eigenes Bild des Bildes mit Hilfe seiner Vorstellungskraft in sich generiert. Diese Provokation der Phantasie kann als Karthasis der Phobos-Bilder Sven Reiles verstanden werden, fordern sie doch den Betrachter zur Einnahme eines eigenen Standpunkts heraus, der sich dem Schrecken stellt.

Robert Sorg im Juni 2011

Zwischen Abstraktion und Figürlichkeit

Zwischen Abstraktion und Figürlichkeit, zwischen Symbol und Realismus kreisen die Bildwelten des Sven Reile.

Die Ausstellung im „Salon der Künste“ bietet einen Blick in das Schaffen des Künstlers der letzten vier Jahre. Mit der Bildgruppe „Head“, hier vertreten durch das Bild „Head 17“, begann die künstlerische Sprachfindung. Es eröffnete sich die „Spielwiese malerischer Ausdrucksmittel“, so der Künstler.

head17Im Bild „Head 17“ aus dem Jahr 2005 deuten sich Gestaltungsprinzipien an, die im aktuellen Bildthema „Phobos“ gänzlich zur Anwendung kommen. Objekte und Subjekt überlagern sich, geometrische Formen organisieren sich, die Topographien des Urbanen, als auch später des Planetaren werden zur psychologischen Landschaft. Bei dieser Überführung und Überlagerung der Bedeutungen liefert sich der Künstler nicht allein den symbolischen und mythologischen Inhalten aus. Phobos verkörpert die Furcht, ist Vorbote des kriegsbringenden Mars.

ik_starkerraucherDoch die „Phobos“-Bilder entziehen sich einer bloßen symbolistischen oder allegorischen Lesart zum einen durch realistische Einzeldarstellung des Motivs, zum anderen durch karikaturhafte Collagen. Mit der realistischen Darstellung der Mondlandschaften begibt sich der Künstler in die Peripherien menschlicher Wahrnehmung, die sich optischer Hilfsmittel bedienen muss um ein Bild kosmischer Phänomene zu gewinnen. Der Künstler sucht irdische Mondlandschaften auf, reist in Wüsten, zu Orten, die zur Erde gehören, aber nicht zu unserem Lebensraum und daher schwerer greifbar sind, ähnlich den Wolken. Da sie sich dem menschlichen Lebensbedingungen entziehen, erscheinen sie uns unbekannt, abstrakt. Und doch sind sie ein Teil unserer Welt – das Fremde im Eigenen.

pietaDie Hinterfragung der Normalität, bildsprachlich im realistischen Stil ausgedrückt, findet sich in der Themengruppe „Karibik“ aus den Jahren 2005 bis 2007. Reiles säkularisierte Pieta scheint die totale Umkehrung der klassischen Ikonographie des Bildthemas. Die junge Mutter Maria, sonst weinend um den Tod ihres Sohnens, lächelt lolitahaft-dämonisch. Zwischen ihren Schenkeln ein Wesen - schmerzverzerrt, aufschreiend.

Die normativen und normierenden Formate der Mediengesellschaft stoßen in „Karibik“ an ihre Grenzen. Das Gute verkehrt sich zum Dämonisch-Bösen, die vermeintlichen Boten der Freiheit offenbaren ihre menschliche Abgründigkeit. Die orange Kleidung des Liegenden/Fallenden ist der Signifikant des karibischen (Alp-)Traums der Menschenrechte – Guantanamo.

loesungDas spannungsvolle Wechselspiel zwischen Realismus und Abstraktion, das zugleich als dilemmatisches Gefangensein zwischen dem Begreifbaren und Unbegreiflichen verstanden werden kann und künstlerisches Grundprinzip Reiles zu sein scheint, zeigt sich besonders deutlich in „Lösung“ (2008) und „Jedentag“ (2008), zwei Künstlerbildnisse, die zwischen realistischer Form und abstrakter Auflösung stehen. In den Bildern Reiles zeigt sich das Scheitern des Versuches einer Realität habhaft zu werden, nicht nur als menschliches Dilemma des Unsteten/Begrenzten, sondern als Bildprinzip, das die massenmedialen Wahrnehmungsvorgaben aufzusprengen versucht und somit grundlegend freiheitlich ist.

Robert Sorg, 2009

Kosmonauten 2007

“Heilsuche in fernen, fremden Welten“
(21.08.2007, Feuilleton Berliner Zeitung, Ingeborg Ruthe)

Ein wenig klingt alles nach Ironie: Die Galerie in der Greifswalder Straße nennt sich “December”, obwohl wir gerade hohen Sommer haben. Und die soeben begonnene Ausstellung trägt den sinnigen Titel “Wir sind alle Kosmonauten”, wo das doch längst nicht mehr auf Russisch gesagt wird, sondern westlich korrekt Astronauten heißt. Was der Besucher ahnt, bestätigt sich in den Gemälden von Sven Reile aus Berlin, den Tuschzeichnungen der Chemnitzerin Marlen Melzow. Und den Videos der New Yorkerin Mariam Ghani, die aus Fenstern hinaus filmt, sogar aus dem Flugzeug - auf Wolken und Dächer fremder Städte - und so das Niemals-Ankommen im Überall-Sein anspricht.
Es geht also um Wegfahren und doch nie Ankommen, um Expeditionen mit ungewissem Ausgang, um Heilsuche in fernen, fremden Welten. Bloß sind diese hier nicht kosmisch im Sinne des wissenschaftlichen Weltalls. Es geht, selbst noch im Flugzeug, ums ausgesprochen Irdische und seine universalen Mythen: um Traum und Desillusion, Liebe und Enttäuschung, Leidenschaft und Hass, Nähe und Ferne, Obsession und Kalkül. Mit den Grauzonen der Lust beschäftigt sich Sven Reile in seinen Bildern. Da ist Gewalt, im Bild “Rückkehr zum Mond” ist eine männliche nackte Figur gemalt wie unter Folter, Handgelenk und Kopf bedeckt mit weißer Farbe wie Binden. Eine schwarze Farbspur wirkt so, dass man sie als Geschoss durch die Brust deuten könnte. Oder als wuchtigen Pfeil wie in den alten Gemälden vom Martyrium des Heiligen Sebastian. Reiles Bilder stecken voller Hinweise und sind doch nicht eindeutig zu erschließen. Sie bedrücken irgendwie, denn der Betrachter ertappt sich als heimlicher, auch hilfloser Beobachter einer Welt, in der sich Gewalt und Sex vermischen. Im Dialog dazu zeigt Marlen Melzow ihre verknappt getuschten Serien mit Tier-Mensch-Wesen, die Körper, die gehörnten Köpfe in schier unmöglichen Verrenkungen. Melzow bezieht sich auf Henri Millers “Wendekreis des Steinbocks”. Sie wollte zeichnerische Parallelen zu dessen autobiografischem Reifeweg in New York und Paris schaffen. Die rücksichtslose Zurschaustellung des Animalischen wirkt bei Melzow melancholisch - wie ein stummer Schrei nach Humanität.

Galerie December, Greifswalder Str. 217, bis 30. 9. Di-So 15-20/24 Uhr.

Showroom 2006